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Hausrat 

Rätsel Nr. 1, 2, 4, 5, 6, 9, 10, 17, 18, 29, 53

 

Eine ganze Reihe der Berner Rätsel behandeln entweder Gegenstände aus Haus und Hof oder andere Geräte des spätantiken und frühmittelalterlichen Alltags. Manches davon findet sich ähnlich verrätselt bereits in der Sammlung des Spätrömers Symphosius (4./5. Jh.), etwa die Leiter, der Besen oder der Spiegel. Dass in den Berner Rätseln ausgerechnet so triviale Dinge wie ein Kochtopf oder ein Sieb nicht nur zum literarischen Thema erhoben werden, sondern dass diese, obwohl unbeseelt, aus den Versen auch noch sprechen und sich selbst oft rühmend beschreiben, gehört zum skurrilen Witz der Gattung. Dabei vermitteln uns diese Rätsel nicht nur kulturgeschichtliche Details des vormodernen Lebens, sondern sie erzählen kleine Geschichten vom Werden und Vergehen, von Arbeit und Zugehörigkeit, in denen sich die Sphären des Menschlichen und Nicht-Menschlichen verschränken, sodass was vermeintlich leblos ist, als wesentlicher Teil der Welt für uns erkennbar wird.

Enigma I

De olla

Ego nata duos patres habere dinoscor;

Prior semper manet, alter, qui vita finitur.

Tertia me mater durum mollescere cogit

Et tenera giro formam adsumo decoram.

Nullum dare victum frigenti corpore possum,

Calida sed cunctis salubres porrego pastos.

Rätsel 1

Der Kochtopf

Ich bin bekanntlich das Kind zweier Väter:

der erste ist beständig, das Leben des anderen begrenzt.

Als dritte macht meine Mutter, dass meine Härte weich wird,

und noch zart, nehme ich im Kreis eine schöne Form an.

Aus kaltem Leib kann ich keine Nahrung geben,

doch warm reiche ich allen bekömmliche Speisen.

Das Rätsel vom Kochtopf (Nr. 1: De olla) steht schon in den ältesten Handschriften am Anfang der Sammlung und enthält eine Reihe von Motiven und Stilmitteln, die für die Berner Rätsel insgesamt typisch sind. Wie in praktisch allen Stücken spricht hier das personifizierte Rätselding selbst (Ego …, 1) und berichtet zunächst von seinem Ursprung im Gefüge eines verwirrenden Verwandtschafts- und Familienverhältnisses, wobei die einzelnen Akteure, einschließlich des Ichs, ihrem Geschlecht nach unterschieden sind. Nach dem Hinweis auf die Entstehung des Topfs folgt im Mittelteil die Beschreibung seiner Verwandlung (3-4), während das abschließende Distichon sich auf dessen Funktion und Verwendung in der Gemeinschaft der Menschen bezieht (5-6). Viele Stücke der Sammlung folgen dieser Struktur und operieren mit denselben rhetorischen Figuren wie das Topf-Rätsel. Dazu zählen nebst der gattungstypischen Prosopopöie etwa die Verwendung von Paradoxa (hier: der doppelte Vater, 1), Reihungen von Antithesen (Leben – Tod, 2; hart – weich, 3; kalt – warm, 4-5) und teils groteske Anthropomorphismen (der kalte »Leib«, 5).

     Bezeichnend für die Gesamtheit der Berner Rätsel ist auch das Spiel mit den grammatikalischen Genera. Ist das Titel- und Lösungswort – und damit das sprechende Ding – im Lateinischen feminin, so sind es auch die Adjektive und Partizipien, die sich darauf beziehen; in den übrigen Fällen (Maskulina und Neutra) findet sich meist die männliche Form. Der Topf ist im Lateinischen feminin (olla) und so spricht dieser hier von sich selbst als »Tochter« (nata, 1) zweier ungleicher Väter. Damit sind wohl die Tonerde (lutum, n.) und das Feuer (ignis, m.) gemeint, denn während erstere als Ton- oder Lehmboden gleichsam ewig Bestand hat, so ist die Lebensdauer des im Brennofen entfachten Feuers begrenzt (2). Das Zusammenspiel der Elemente ergänzt das Wasser (lat. aqua, f.) als »Mutter« (3) dieser eigentümlichen Familiengeschichte: Mit Wasser wird die harte Tonerde weich und »im Kreis« (4) – das heißt auf der Drehscheibe des Töpfers – formbar, sodass aus der zarten Tochter zuletzt ein Kochtopf wird, in dem sich warmes Essen zubereiten lässt.

     Tönernes Kochgeschirr aus spätrömischer Zeit hat sich mancherorts erhalten, einschließlich rundbauchiger Kochtöpfe mit Henkeln, für die auch das lateinische Mittelalter den Begriff olla verwendete. Die seit dem frühen Altertum bekannte mechanische Töpferscheibe allerdings blieb im nachrömischen Westen zunächst vor allem im Mittelmeerraum in Gebrauch.

Enigma II

De lucerna

Me mater novellam vetus de germine finxit

Et in nullo patris formata sumo figuram.

Oculi non mihi lumen ostendere possunt,

Patulo sed flammas ore produco coruscas.

Nullum me continget imber nec flamina venti,

Dum amica lucis domi delector in umbras.

Rätsel 2

Die Ölampe

Eine alte Mutter hat mich als Neugeborenes aus einem Keim gebildet,

doch meine Form gleicht in nichts der Gestalt des Vaters.

Meine Augen können kein Licht ausstrahlen,

offenen Munds aber erzeuge ich funkelnde Flammen.

Nichts berührt mich, weder Regen noch ein Windstoss,

so lange es mir als Freundin des Lichts zuhause im Dunkeln gefällt.

Ein gebranntes Keramikgefäß ist genauso die Öllampe (Nr. 2: De lucerna), auch sie ein Kind ungleicher Eltern: Die »alte Mutter« (1) ist hier die Erde (lat. terra, f.), wo der Ton als »Keim« (1) und Rohstoff vorkommt. Aus diesem formt der Töpfer als Urheber und »Vater« (2) das irdene Objekt, das so anders aussieht als er selbst. Die Augen der neugeborenen Tochter (novellam, 1) – die feminine Form bezieht sich auch hier auf das Genus der lucerna – nämlich sind blind und ihr Mund feurig, womit die Öffnungen einer typischen römischen Öllampe bezeichnet sind. In der Spätzeit hatten die ovalen schälchenartigen Behälter in ihrer konkaven Oberseite oft nicht nur eines, sondern zwei Einfülllöcher für das Öl (die lichtlosen »Augen«, 3) und eine hervortretende Schnauze für den Docht (der »offene Mund« mit der Flamme, 4) – ganz wie ein Gesicht. 

     Verwendung fanden die massenhaft aus Gipsmodellen gebrannten Lampen primär im privaten Bereich, »zuhause im Dunkeln« (6), wie es am Schluss heißt. Als Brennstoff diente Olivenöl, das auch im Berner Olivenbaum-Rätsel (Nr. 14) »Licht in die Finsternis« bringt. Tonlampen blieben deshalb vor allem im Mittelmeerraum verbreitet, während sie nördlich der Alpen mit dem Ende der Römerherrschaft außer Gebrauch kamen und zunehmend durch Laternen und – im kirchlichen Bereich – hängende Glaslampen ersetzt wurden.

Enigma VI

De calice

Nullius ut meam lux sola penetrat umbram

Et natura vili miros postpono lapillos.

Ignem fero nascens, natus ab igne fatigor.

Nulla me putrido tangit nec funera turbant:

Pristina defunctus sospes in forma resurgo

Et amica libens oscula porrego cunctis.

Rätsel 6

Der Glasbecher 

Wie bei keinem sonst durchdringt allein das Licht meine Dunkelheit,

und von Natur aus wertlos, gebe ich nichts auf Edelsteinchen.

Feuererfüllt komme ich zur Welt, doch einmal geboren, ermattet mich das Feuer;

keine Fäulnis berührt mich, noch beunruhigt mich der Tod.

Tot auferstehe ich unversehrt in alter Gestalt

und gewähre gerne allen freundliche Küsse.

Wie die Keramikproduktion war auch die Herstellung von geblasenem Glas in weiten Teilen des römischen Reichs seit der frühen Kaiserzeit industriell organisiert. In den Glaswerkstätten wurden verschiedene kleine und größere Gefäße hergestellt, darunter viele Trinkgläser und -becher, die man auch dekorierte. Manches davon entstand aus gesammelten und eingeschmolzenen Scherben, so auch der Glasbecher des Rätsels (Nr. 6: De calice), der sich als schlichter Alltagsgegenstand in einer von Gegensätzen bestimmten Geschichte von Geburt, Tod und Auferstehung präsentiert: Lichtdurchlässig, aber schmucklos (1-2), entsteht der Becher im Feuer des Glasofens, dessen Hitze ihn auch zu schmelzen vermag (3). Rein ist sein Material (4) und – anders als Gefäße aus Holz – unverwüstlich insofern, als es sich wiederverwerten lässt (5), wenn aus dem alten ein neuer Glasbecher wird, den wir mit unseren durstigen Lippen wie zum Kuss berühren (6).

     Das abschließende Bild des küssenden Trinkgefäßes begegnet auch in den Versrätseln des Angelsachsen Aldhelm (gest. 709/10), in den karolingischen Lorscher Rätseln und in den altenglischen Rätselgedichten des Exeterbuchs aus dem 10. Jahrhundert. Auch Aldhelm beschreibt – womöglich in Kenntnis der älteren Berner Verse – einen funkelnden gläsernen Trinkbecher (Nr. 80: Calix vitreus) römischer Art und nicht einen Kelch (den liturgischen calix vieler mittellateinischer Texte). Das Handwerk der Glasherstellung und -verarbeitung übernahmen die frühmittelalterlichen europäischen Glashütten von den Römern; ihre Gläser aber waren weniger transparent und gröber und blieben eine Luxusware aristokratischer Haushalte.

Enigma XXIX

De speculo

Uterum si mihi praelucens texerit umbra,

Proprios volenti devota porrego vultus.

Talis ego mater vivos non genero natos,

Sed petenti vanas diffundo visu figuras.

Exiguos licet mentita profero foetos,

Sed de vero suas videnti dirigo formas.

Rätsel 29

Der Spiegel

Wenn ein strahlender Schatten meinen Leib bedeckt,

zeige ich denen, die es wünschen, getreu ihr eigenes Gesicht.

So gebäre ich als Mutter keine lebendigen Söhne,

sondern verbreite leere Gestalten für die, die sie sehen wollen.

Zwar bringe ich mit meinem Trug nur dürftige Kinder hervor,

den Betrachtern aber halte ich ihr wahres Aussehen entgegen.

Gläserne Spiegel mit hinterlegter Bleifolie kannte man im Westen zwar seit dem 1. Jahrhundert n. Chr., doch blieben sie selten und ihr Gebrauch setzte sich erst im Hochmittelalter langsam durch. Bis dahin stellte man kleinere Hand- und Taschenspiegel aus polierter Bronze und Silber her, meist mit verzierten Griffen und Rücken wie die römischen Silberspiegel aus dem Boscoreale-Schatz. Noch bei Isidor von Sevilla (gest. 636) gehört der Spiegel zur weiblichen Sphäre des Haushalts, wenn er in seinen Etymologien erklärt: »Der Spiegel (speculum) heißt so, entweder weil er vom Glanz (splendor) zurückstrahlt oder weil Frauen, wenn sie dort hineinschauen, das Aussehen (species) ihres Gesichts betrachten und hinzufügen, was ihnen an Verzierung zu fehlen scheint.« (19,31,18).

     Vom Widerschein des Gesichts im Spiegel spricht auch das Berner Rätsel (Nr. 29: De speculo), das einmal mehr die Metaphern der Geburt und Mutterschaft verwendet. Das im Lateinischen sächliche Objekt erscheint hier personifiziert als »Mutter« (3), die allerdings statt lebendiger nur »leere« und »dürftige« Kinder erzeugt (4-5). Zwar trügt das Spiegelbild und dennoch sieht, wer sein Gesicht wie einen »Schatten« (1) vor den Spiegel hält, ein Abbild seiner selbst (5-6). In fünf verschiedenen, semantisch nahen Verben – porrego (2), genero (3), diffundo (4), profero (5), dirigo (6) – vollzieht das Rätsel sein Vexierspiel um Sein und Schein, das so ganz diesseitig und frei noch ist von der geistlichen Symbolik, die das christliche Mittelalter später in den Spiegel hineindenkt.

Enigma IV

De scamno

Mollibus horresco semper consistere locis,

Ungula nam mihi firma, si caute ponatur.

Nullum, iter agens, sessorem dorso requiro,

Plures fero libens, meo dum stabulo versor.

Nulla frena mihi mansueto iuveni pendas,

Calcibus et senem nolo me verberes ullis.

Rätsel 4

Der Schemel

Mich schaudert, stets an feuchten Stellen zu stehen,

denn mein Huf ist fest, wenn man ihn vorsichtig setzt.

Ich brauche, wenn ich reise, keinen Reiter auf dem Rücken;

willig trage ich viele, während ich in meinem Stall bin.

Lege mir keine Zügel an, solange ich ein zahmer Jüngling bin,

und bin ich alt, will ich nicht, dass du mir die Sporen gibst.

Nicht in den Händen der Privilegierten, sondern am Boden und in der Ecke fristen der Schemel und der Tisch ihr bescheidenes Dasein. Dennoch präsentieren sich beide als willige und geduldige Diener am Menschen und hoffen auf deren Dankbarkeit. 

     Was sich mit »Huf« (2), »Reiter« (3), »Stall« (4), »Zügel« (5) und »Sporen« (6) wie ein Pferd ausnimmt, ist in Wahrheit ein einfacher vierfüßiger Schemel (Nr. 4: De scamno), den das Rätsel in einer Reihe von Paradoxa umschreibt. Denn während der Pferdehuf sich bewegt, stehen die Füße des Schemels auf festem Grund, auch wenn dieser gelegentlich weich und feucht ist (1-2), und trägt man ihn herum, so braucht es dazu keinen Reiter (3). Anders als das Tier aber dient das Möbel im »Stall«, das heißt im Innern des Hauses (4), und bittet um Nachsicht: Ist er noch neu und frisch, so braucht der Schemel keine Verstärkung wie ein ungestümes Jungpferd die Zügel; und ist er schon lange in Gebrauch und langsam klapprig, so mag er nicht mit Füßen getreten werden wie ein alter Gaul, dem man die Sporen gibt (5-6).

     Dass es sich beim Räselding nicht um eine Sitzbank, sondern um einen Fußschemel oder Tritt handelt, bestätigen die Erklärungen bei Varro (116-27 v. Chr.) und Isidor, bei denen es heißt, dass ein scamnum (wie im Titel des Rätsels) den Einstieg in ein höheres Bett erleichtere (ling. 5,168; etym. 20,11,8). In der römischen Antike fertigte man Schemel meist aus Holz, wobei die verzierten Füße oft die Form von Tierpfoten oder -hufen hatten – umso mehr passt der Vergleich zwischen einem Pferd und dem sprechenden Schemel mit seinem festen »Huf«.

Enigma V

De mensa

Pulchra mater ego natos dum collego multos,

Cunctis trado libens quicquid in pectore gesto,

Oscula nam mihi prius qui cara dederunt,

Vestibus exutam turpi me modo relinquunt.

Nulli sicut mihi pro bonis mala redduntur;

Quos lactavi, nudam pede per angula versant.

Rätsel 5

Der Tisch

Wenn ich als glückliche Mutter meine Kinder um mich schare,

gebe ich gern allen, was ich in meiner Brust trage.

Die mir aber zuvor noch liebe Küsse gaben,

verlassen mich alsbald schmählich, meiner Kleider beraubt.

Keinem so wie mir vergelten sie Gutes mit Bösem;

die ich gesäugt, drehen mich nackt beim Fuß in die Ecke.

Vom »Fuß« (6) ist ähnlich die Rede im Rätsel vom Tisch (Nr. 5: De mensa); auch Tischbeine endeten in der römischen Welt vielfach in Tierfüßen. Die im Lateinischen feminine mensa ist hier jedoch eine gütige »Mutter«, die sich über ihre undankbaren »Kinder« (1) beklagt. Gemeint sind damit der Esstisch und die Essenden, die sich an den Speisen laben wie Säuglinge an der mütterlichen »Brust« (2, 6). Auch das Glasbecher-Rätsel (Nr. 6) braucht die Metapher des Küssens für das Trinken; hier bekommt der Tisch »liebe Küsse« von denen, die an ihm essen und trinken (3). Doch das Mutterglück ist nicht von Dauer, denn achtlos verlassen die Gesättigten nach der Mahlzeit die Tafel und lassen sie »nackt«, das heißt ohne Tischtuch, zurück (4-6).

     Leinene Hand- und Tischtücher gehörten bereits zur antiken und frühmittelalterlichen Esskultur. Hier bekleiden sie wohl einen einfachen Holztisch mit vier, drei oder nur einem »Fuß«, an dem der leere Tisch am Ende gepackt und aus dem Weg geräumt wird (6).

Enigma X

De scala

Singula si vivens firmis constitero plantis,

Viam me roganti directam ire negabo.

Gemina sed soror meo si latere iungat,

Coeptum valet iter velox percurrere quisquis.

Unde pedem mihi nisi calcaverit ille,

Manibus quae cupit numquam contingere valet.

Rätsel 10

Die Leiter

Lebte ich allein und stünde still auf festen Füßen,

könnte ich niemandem einen geraden Weg bieten.

Wenn aber meine Zwillingsschwester sich mir zur Seite stellt,

kann jeder die begonnene Strecke rasch durchlaufen.

Und so mag man, solange man mir nicht auf den Fuß tritt,

mit den Händen nie erreichen, was man begehrt.

Ihren beharrlichen Dienst in Haus und Hof verrichtet auch die Leiter (Nr. 10: De scala). Dass sie nicht »allein« (singula, 1; die feminine Form bezieht sich auf das Geschlecht des Rätseldings), sondern nur zusammen mit ihrer »Zwillingsschwester« (3) von Nutzen ist, bedeutet, dass hier eine zweiteilige, wohl hölzerne und beidseitig begehbare Steh- oder Bockleiter gemeint ist und keine Leiter zum Anstellen wie die hohen Sturmleitern, die im Altertum und im Mittelalter zum Kriegsgerät zählten. Stellt man nämlich die beiden Teile der Bockleiter gespreizt auf, lassen sich ihre Sprossen rasch besteigen (4) und man erreicht mit den Händen, was man herunterholen will. 

     Die sechs Verse des Rätsels spielen mit den Gegensätzen zwischen Stehen und Gehen und zwischen dem Unten und Oben und erzählen so eine Geschichte von gegenseitiger Abhängigkeit und Hilfe und vom Zusammenwirken von Ding und Mensch: Erst die stützende »Schwester« macht, dass die Leiter stillsteht und ein Weg sich auftut für die, die an ihr hochsteigen – auf dem »geraden Weg« vom Fuß der Leiter bis zur ausgestreckten Hand.

Enigma XVIII

De scopa

Florigeras gero comas, dum maneo silvis,

Et honesto vivo modo, dum habito campis.

Turpius me nulla domi vernacula servit

Et redacta vili solo depono capillos;

Cuncti per horrendam me terrae pulverem iactant,

Sed amoena domus sine me nulla videtur.

Rätsel 18

Der Besen

Ich trage blütenreiche Haare, solange ich in den Wäldern weile,

und lebe ehrenhaft, solange ich auf den Feldern wohne.

Im Haus verrichtet keine Sklavin eine schmählichere Arbeit als ich,

und auf den bloßen Boden gezerrt, lasse ich das Haar fallen. 

Alle jagen mich durch den widerwärtigen Staub der Erde,

doch kein Haus gilt ohne mich als schön.

Im römischen Haushalt war das Reinemachen und Fegen Sklavenarbeit und oblag dem Auskehrer (scoparius). Davon ist auch der sprechende Besen des Berner Rätsels (Nr. 18: De scopa) nicht befreit, wenn er sich sogar noch unter die Haussklavin (vernacula, 3) stellt. Der im Lateinischen feminine Besen erscheint hier als stolze Frau, die aus ihrer ländlichen Heimat entführt (1-2) und in einem brutalen Akt häuslicher Gewalt zur niedrigsten Arbeit versklavt wird. Dass der erst noch »ehrenhafte« Besen im Haus auf den Boden gezerrt wird und dabei sein Haar fallen lassen muss (depono capillos, 4), suggeriert gar einen sexuellen Übergriff, auch wenn die durch den ekligen Dreck Gewischte dabei das Haus verschönert (5-6).

     Der erschütternde Bericht beinhaltet eine doppelte Verwandlung: Aus dem Baum wird ein Besen, und der Schmutz weicht der Sauberkeit. Besen stellten die Römer unter anderem aus den blattreichen Zweigen der immergrünen Myrte her, wie Plinius der Ältere berichtet (nat. 23,166). Der in den Wäldern und Macchien des Mittelmeerraums heimische Strauch trägt duftende Blüten und war im Altertum ein beliebter Brautschmuck. Das alles passt zur Sprecherin des Rätsels, die mit ihrem »blütenreichen Haar« in Wald und Feld aufwächst, bevor man sie ins Haus verschleppt, dem sie zuletzt sogar etwas von ihrer Anmut zurückgibt.

Enigma IX

De mola

Senior ab aevo, Eva sum senior ego,

Et senectam gravem nemo currendo revincit.

Vitam dabo cunctis, vitam si tulero multis.

Milia prosterno, manu dum verbero nullum.

Satura nam victum, ignem ieiuna produco,

Et uno vagantes possum conprendere loco.

Rätsel 9

Der Mühlstein

Ich bin älter als die Welt, älter als Eva bin ich,

und niemand bezwingt mein hohes Alter im Laufen.

Allen werde ich Leben geben, wenn ich vielen das Leben nehme.

Tausende vernichte ich, doch schlage ich keinen mit der Hand.

Satt erzeuge ich Nahrung, nüchtern aber Feuer,

und Rastlose kann ich an einem Ort fassen. 

Die einzelnen Arbeitsschritte, die es braucht, um aus Getreide Mehl zu gewinnen, beschreiben die Berner Rätsel in drei separaten Stücken, von der Ernte und dem Dreschen (Nr. 12), über das Mahlen des Korns (Nr. 9) bis hin zum Sieben des Mehls (Nr. 17). Das Rätsel vom Mühlstein (Nr. 9: De mola) ist das einzige der Sammlung, das mit der Erwähnung der alttestamentlichen Eva (1) explizit christliches Gedankengut enthält und damit vermuten lässt, dass der Autor selbst ein Christ war. Die biblische Stammmutter fungiert hier allerdings bloß als Hinweis auf das hohe Alter des Rätseldings und ist Teil des rhetorischen Kunststücks, mit dem das Rätsel einsetzt. Der Vers mit dem doppelten Komparativ Senior ab aevo, Eva sum senior ego (1) nämlich ist nicht nur chiastisch aufgebaut, sondern die Wörter alliterieren gleich mehrfach: senior–sum–senior und aevo–Eva–ego. Das widerspiegelt gleichsam die zweiteilige Gestalt einer einfachen Handmühle mit ihren beiden miteinander verbunden Rundsteinen: dem oberen beweglichen, leicht konkaven Läufer (lat. catillus) samt hölzernem Hebel und dem unteren, festen Bodenstein (lat. meta). Dabei füllt man das Korn durch die zentrale Öffnung im Läuferstein und dreht diesen von Hand im Kreis, damit das Mehl und Schrot entlang der Furchen im abgeschrägten Bodenstein nach außen getrieben werden. 

     Die Mechanik tritt im Rätsel allerdings in den Hintergrund zugunsten der Funktion der Mühle als personifizierte Nahrungsspenderin, die alle satt macht, solange sie selbst satt, das heißt voller Korn, ist. Den Mahlvorgang beschreiben die Verse 2 bis 6 des Rätsels in einer Kette von Gegensätzen. Der Läufer ist eine Art Urgestein (im römischen Altertum verwendete man vorzugsweise vulkanischen Basalt) und trotz seines Alters rüstig und gut »im Laufen« (2), indem er fleißig rotiert. Dass er dabei Leben schenkt und gleichzeitig ohne Hand anzulegen »Tausende« tötet (3-4), bezieht sich auf das Mehl und das Schrot, das beim wiederholten Mahlen immer feiner verrieben wird. Füllt man nämlich den Läufer mit Korn, ist die Mühle »satt«, und was sich rastlos zwischen den Mahlsteinen bewegt, kommt geschrotet als »Nahrung« heraus (5-6). Ist der Abstand zwischen dem Läufer- und dem Bodenstein jedoch zu gering, so kann die Reibung das Korn verbrennen oder die Steine schlagen, falls zu wenig oder gar kein Mahlgut eingefüllt wird, Funken, worauf das Rätsel mit dem Verweis auf das »Feuer« anspielt, das der »nüchterne« Mahlstein entfacht (5). Das gilt speziell für die Basaltlava, die wohl schon Plinius der Ältere meint, wenn er schreibt, dass der Mühlstein auch »Feuerstein« (pyrites) genannt werde, »weil viel Feuer in ihm ist« (nat. 36,137).

     Handmühlen, wie sie die Römer im privaten Haushalt und in den Legionärslagern verwendeten, blieben das ganze Mittelalter hindurch in Gebrauch. Größere, mit Zugtieren angetriebene Rotationsmühlen und Wassermühlen kannte man seit dem zweiten bzw. ersten vorchristlichen Jahrhundert, doch sind sie hier wohl kaum gemeint.

Enigma XVII

De cribro

Patulo sum semper ore nec labia iungo.

Incitor ad cursum frequenti verbere tactus.

Exta mihi nulla; manu si forte ponantur,

Quas amitto currens, minuto vulnere ruptus,

Meliora cunctis, mihi nam vilia servans;

Vacuumque bonis inanem cuncti relinquunt.

Rätsel 17

Das Sieb

Mein Mund ist stets offen und die Lippen schließe ich nie.

Von häufigen Schlägen getroffen, werde ich zum Laufen gebracht.

Eingeweide habe ich keine; legt man sie aber mit kräftiger Hand hinein,

verliere ich sie laufend, von winziger Verletzung durchlöchert,

als das Bessere für alle und behalte das Wertlose für mich;

und alle lassen liegen, was leer an Gutem und unnütz ist.

Wie ein mit Schlägen angetriebener Esel an der Mühle schuftet dafür das Sieb (Nr. 17: De cribro). Dabei stehen der offene »Mund«, die »Lippen« und die »Verletzung« (1, 4) für den runden Boden, den hohen Rand und die Löcher des Siebs, das von Menschenhand »zum Laufen gebracht« (2), das heißt kräftig gerüttelt wird. Das Sieb selbst nämlich ist unbelebt, denn seine »Eingeweide« werden bloß hineingelegt, um Feines und Grobes zu trennen (3-4), sodass darin liegen bleibt, was wertlos ist, bevor man das Gerät zuletzt achtlos wegräumt (5-6).

     Das »Bessere für alle« (5), das durch das Sieb rinnt, ist hier wohl vom Schrot gesondertes Mehl (vgl. Rätsel Nr. 9) oder was man beim Enthülsen im Mörser gewinnt (vgl. Rätsel Nr. 53), wobei die in Vers 4 mit der »winzigen Verletzung« oder »Wunde« bezeichneten kleinen Löcher eher an ein feines Sieb denken lassen. Schon die Römer unterschieden feine Mehlsiebe aus geflochtenem Pferdehaar oder Leinwand oder und gröbere Siebe aus Ton oder Metall. Das Sieb aber heisse cribrum, erklärt Isidor von Sevilla, »weil das Getreide darin läuft (currat)« (etym. 20,8,6) – wie der laufende Sprecher des Rätsels.

Enigma LIII

[De pistillo]

Venter mihi nullus, infra praecordia nulla,

Tenui nam semper feror in corpore siccus.

Cibum nulli quaero, ciborum milia servans.

Loco currens uno lucrum ac confero damnum.

Duo mihi membra tantum in corpore pendunt,

Similemque gerunt caput et planta figuram.

Rätsel 53

Die Mörserkeule

Ich habe keinen Bauch und keine Eingeweide im Innern,

denn nüchtern trägt man mich am schmächtigen Körper.

Nach Speise verlange ich nicht, tausende Speisen bewahre ich unversehrt.

Laufe ich an einem Ort, bringe ich Gewinn aber auch Verlust.

Nur zwei Glieder hängen an meinem Körper,

und Kopf und Fuß haben eine ähnliche Gestalt.

Eine Vorstufe der Handmühle ist der Mörser, der wie diese seit dem frühesten Altertum zum alltäglichen Küchengerät gehörte und in dem man kleinere Mengen Getreide, Gewürze und Steine zerrieb. Dazu verwendete man einen keulenartigen Stößel, die Mörserkeule, deren Form und Funktion das Berner Rätsel beschreibt (Nr. 53: De pistillo). Das sprechende, jedoch leblose Objekt erscheint dabei als monströses Wesen ohne Organe, aus dessen dünnem Körper nur gerade ein Kopf und ein Fuß wachsen und das dennoch laufen kann. Bezeichnet sind damit der schmale Mittelteil und die beiden ausgeformten Enden des Stößels, mit dem man im Mörser, »an einem Ort«, die Dinge zermalmt, sodass durch das Enthülsen und Zerreiben ein »Gewinn« und zugleich ein »Verlust« entsteht (4). Dabei bleibt das Werkzeug »nüchtern«, da es lediglich zur Essenszubereitung dient, selbst aber nichts isst (2-3). 

     Die Handschriften überliefern die Zeilen ohne Titel und damit ohne eine Lösung. Dass hier eine Mörserkeule gemeint ist, erkannte bereits Wilhelm Meyer (1886) und verwies auf das ältere Rätsel des Symphosius (Nr. 88: Pistillus), wo es ähnlich heißt, die Mörserkeule habe bloß einen Nacken und statt Füße einen zweiten Kopf, »denn andere Körperteile fehlen« (3). Einige Herausgeber vermuten, das Berner Rätsel beschreibe eine Waage, doch dagegen sprechen sowohl die Bildlichkeit als auch die wörtlichen Parallelen in den Versen 1 und 3-4 zu den verwandten Rätseln vom Mühlstein (Nr. 9) und vom Sieb (Nr. 17), die beide genauso »laufen« (currendo, 2, bzw. currens, 4): der Mühlstein ebenfalls »an einem Ort« (uno … loco, 6), während er »Tausende« (milia, 4) vernichtet, und das Sieb, indem es ohne Eingeweide (exta mihi nulla, 3) nur Wertloses zurückbehält (vilia servans, 5).

     Im Lateinischen bezeichnet pilum in der Regel einen größeren und pistillus (wie bei Symphosius) einen kleineren Stößel. Verwendet wurden letztere vielfach mit kleineren Reibschalen aus Terrakotta; größere Mörser waren aus Stein oder Bronze, die Keulen auch bleiern. In der Römerzeit hatten diese gelegentlich die Form kleiner gebogener Daumen oder Beinchen samt Fuß zum Stampfen.

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