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Sprache und Stil 

 

Die bei Wilhelm Meyer (1905) als »Barbarismen« aufgelisteten sprachlichen Eigentümlichkeiten der Berner Rätsel sagen nichts Näheres über die Heimat und die Entstehungszeit der Sammlung aus. Manches davon begegnet, wenn nicht bereits im spätantiken Latein, so auch sonst in der mittellateinischen Dichtung des Frühmittelalters: etwa bloßes nec statt necnec; nam für autem oder nur anknüpfend; präpositionales infra statt intra; Komparativ mit a(b); postquam für postea und so fort. Der Sprachwandel zeigt sich auch in einzelnen Ausdrücken wie iterato im Sinne von »wiederum« (59, 4), supporto mit der Bedeutung »ertragen« (50, 3), gladio für »Messer« (19, 3; 24, 4) oder certamine für »Stoß, Hieb« (52, 6). 

    Nebst einzelnen häufig verwendeten Wörtern wie mater, pater, corpus, caput, nasci oder generare sind gelegentlich ganze Fügungen wiederholt, so … semper consistere locis im Eingangsvers der Rätsel vom Schemel und vom Schatten (4, 1; 61, 1) oder … perambulo terras vom Pfeffer und der Sonne (37, 1; 55, 4).  Dabei vermeiden die Berner Rätsel jene seltenen Vokabeln und Gräzismen, die Aldhelm in seinen Rätselgedichten gerne gebraucht, und folgt auch sprachlich mehr den konzisen Tristichen des Symphosius als den teils ausschweifenden Kompositionen des Angelsachsen.

    Dass von allen vormodernen Sammlungen die Berner Rätsel sich am nächsten mit Symphosius’ spätantiken Aenigmata verbinden, liegt nicht allein an der Auswahl der Themen, die sich ganz dem Hier und Jetzt zuwenden, Abstraktes meiden und alles Religiöse ausblenden, und an der Versform (hier akzentuierende Sechszeiler, dort quantitierende Tristichen), sondern auch an der Verwendung einer Reihe von Stilmitteln, die bei Symphosius gattungstypisch vorgebildet sind. Dazu gehören die Sprachfiguren der Metapher, der Personifikation, der Antithese und des Paradoxons, aber auch die Polysemie und wortspielerische Klangfiguren (Alliteration, Paronomasie, Polyptoton), die in der Berner Sammlung häufig – und kunstvoll miteinander verbunden – begegnen. 

    Die sprachliche Verschlüsselung folgt dem für das literarische Rätsel konstituierenden Prinzip des metaphorischen Vergleichs. Dieser beruht auf dem, was die antike Rätseldefinition die »verborgene Ähnlichkeit der Dinge« (Donatus) nennt: Der zu erratende Gegenstand gleicht zwar dem Anderen, als das er beschrieben wird, ist dieses suggerierte Andere jedoch nicht, da nicht alle Einzelheiten auflösbar sind und die Analogie letztlich nicht aufgeht. So präsentiert sich der Schemel (Nr. 4: De scamno) als zahmes Reitpferd samt Huf, Zügel und Sporen, das allerdings nur im »Stall«, das heißt im Innern des Hauses, willig jemanden auf seinem Rücken trägt; der Schatten (Nr. 61: De umbra) gleicht einem Baum mit Ästen, doch bewegt er sich weg und verschwindet, will man ihn einholen; oder das Sieb (Nr. 17: De cribro), das man antreibt wie ein Zugtier, hat wohl einen offenen Mund jedoch keine inneren Organe. 

    Entschiedener noch als bei Symphosius erscheinen hier die zu erratenden Sachen, Pflanzen, Tiere und Naturerscheinungen als sinnbegabte, sprechende und oft fühlende Wesen, denn ausnahmslos alle 64 Rätsel der Sammlung personifizieren ihren Gegenstand – teils mit grotesken Anthropomorphismen und unter Nennung von allerlei Körperteilen – und reden uns praktisch überall in der Ich-Form an. Mit der Figur der Prosopopöie verbunden ist die für die Sammlung typische Bildlichkeit der Geburts- und Familien-Metaphern, die vielfach zu kleinen Geschichten des geheimnisvollen Werdens und Sich-Veränderns versponnen sind. Die Tonflasche etwa ist schon bei Symphosius (Nr. 81: Lagena) das Kind der mütterlichen Erde (Tellus, f.) und des väterlichen Feuers (Prometheus, m.), wobei die Mutter ihr Geschöpf zerstört, sobald die Flasche am Boden zerbricht. Das inhaltlich verwandte Berner Rätsel vom irdenen Kochtopf (Nr. 1: De olla) erweitert die Familie um einen zweiten Vater, wenn zum Feuer (ignis, m.) die ebenfalls männlich verstandene Tonerde (lutum, n.) tritt, die mithilfe des mütterlichen Wassers (aqua, f.) aufgeweicht und auf der Töpferscheibe geformt wird. Doch die Entstehung und Verwandlung führt hier nicht zu einem jähen Ende, sondern die Verse schließen mit einem Hinweis auf den Dienst des Rätseldings am Menschen, wenn zuletzt im Topf warmes Essen kocht. 

    Immer wieder lesen wir von Eltern, Kindern und Geschwistern, die zeugen und geboren werden, nähren und gedeihen, bleiben und vergehen: Der Tisch schart die Essenden um sich wie eine säugende Mutter ihre Kinder (Nr. 5: De mensa); das Saatkorn ist der selbstlose Vater des Getreides (Nr. 12: De grano); oder die Sterne kreisen wie stumme Schwestern am Himmelsgewölbe (Nr. 62: De stellis). Wie beim Topf-Rätsel entspricht dabei die jeweilige verwandtschaftliche Rolle dem grammatikalischen Geschlecht des Rätseldings, doch ist das Spiel mit den Genera bezeichnend für die Gesamtheit der Berner Rätsel und stets konsequent umgesetzt: Ist das Titel- und Lösungswort – und damit das sprechende Ding – im Lateinischen feminin, so sind es auch die Nomina, Adjektive und Partizipien, die sich darauf beziehen; in den anderen Fällen (Maskulina und Neutra) findet sich in der Regel die männliche Form. 

    Besonders verwirrend wird das Ganze, wenn die »dunkle« Rätselrede aus antithetischen Reihungen besteht. Das Holz des Schiffs (Nr. 11: De nave) beispielsweise lebt als Baum und ist tot als Schiffsplanke, steht und liegt, und das Schiff selbst ist leer und beladen, wenn es, selbst leblos, Leben in Form von Nahrung spendet. Die Gegensatzpaare lebendig/tot, alt/jung, groß/klein usw. strukturieren eine ganze Reihe von Rätseln und sind meist zu ein- oder zweizeiligen Paradoxa gefügt. So ist das Ei (Nr. 8: De ovo), in dem das Küken heranwächst, Mutter und Kind zugleich; der Schwamm (Nr. 32: De spongia) ist leicht, hält man ihn in der Hand, doch schwer, wenn man ihn loslässt und er sich mit Wasser füllt, sodass er seine eigene »Mutter« gebiert, drückt man ihn wieder aus; und der Pfeffer (Nr. 37: De pipere) wird erst stark, wann man ihn bricht und er den »beißt»«, der auf ihn beißt, obgleich er selbst zahnlos ist.

    Manches davon gehört traditionell zum stilistischen Repertoire der Rätseldichtung – Vergleichsbilder der Geburt und Familie und ähnliche Anthropomorphismen kennen auch Symphosius und Aldhelm –, doch nur in der Berner Sammlung sind die Redefiguren so dicht und regelmäßig verwendet, als ginge es darum, ein rhetorisches Munster gleichsam wie in der Übungsstunde stets neu zu variieren. Das einheitliche Prinzip und die gelegentlich etwas ermüdenden Wiederholungen erzeugen so eine Geschlossenheit, die die Berner Rätsel von den übrigen frühmittelalterlichen Sammlungen unterscheidet. Anders als in den lateinischen und volkssprachlichen Rätselgedichten aus dem frühen England finden wir hier keine einleitenden Formeln und abschließenden Rateaufforderungen (»Sage, wie ich heiße …«), auch gibt es keine logogriphischen Elemente wie beim Buchstabenrätsel, wo sich das Lösungswort durch Umstellen oder Weglassen einzelner Silben und Buchstaben erschließt. Und vor allem fehlen jene obszönen Doppeldeutigkeiten, für die die altenglischen Rätsel des Exeterbuchs (10. Jh.) bekannt sind. 

    Vielmehr spricht aus den Berner Stücken ein Staunen über die verborgene Schönheit und schillernde Vielfalt der Welt – von den alltäglichsten Sachen, die uns umgeben, bis zu den wundersamen Erscheinungen der Natur, ob klein und unscheinbar oder glanzvoll entrückt. Die rätselhafte, letztlich unergründbare Ordnung des Seins zeigt sich hier als sinnliches Spiel, in dem sich die Dinge stetig wandeln und sich in dunklen Sprachbildern vor uns verhüllen und enthüllen.

Published February 2023

How to quote this site:

Bitterli, Dieter. “Einführung: Stil.” Die Berner Rätsel. 2023. [online]. Available at: https://www.enigmata.ch

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