Ausgaben und Übersetzungen
Zum ersten Mal herausgegeben wurden die Berner Rätsel 1839 von Franz Joseph Mone aus der älteren der beiden Wiener Handschriften (Cod. 67). Dreißig Jahre später druckte Alexander Riese erstmals den unvollständigen Text des Berner Codex 611 im ersten Teil seiner Anthologia Latina (1869) und fügte in deren zweitem Teil (1870) die Lesarten der Handschriften Wien Cod. 67 (nach Mone) und Paris Latin 5596 hinzu; der Text der zweiten Auflage der Anthologie von 1894 schließlich kollationierte zusätzlich die Codices Leipzig Rep. I 74 und Paris Latin 8071 und bot, wiederum im zweiten Teil (1906), die Varianten des Berliner Phillippicus.
Schon vorher hatten Paul Brandt (1883) und Wilhelm Meyer (1886) die Berner Rätsel noch in Unkenntnis der Berliner Handschrift ediert, bevor Paul Strecker diese seiner Ausgabe innerhalb der Monumenta Germaniae Historica (1914) zugrunde legte. Unter dem Titel »Enigmata hexasticha« (sechszeilige Rätsel) bot Strecker den bis dahin vollständigsten und besten Text der nun 64 Gedichte umfassenden Sammlung, einschließlich des nur im Berliner Codex überlieferten Rätsels 50A. Gemäß den Editionsprinzipien der Monumenta notierte Strecker nebst den Lesarten der ihm bekannten Handschriften zahlreiche wörtliche Parallelen innerhalb der Sammlung sowie Similien speziell zu den Rätseln des Symphosius und denjenigen Aldhelms und Tatwins, blieb aber, was mögliche Abhängigkeiten betrifft, genauso zurückhaltend wie bei der Beurteilung der ohne Lösung überlieferten Stücke, die er ohne Titel druckte.
Anders François Glorie in seiner zweibändigen Ausgabe spätantiker und frühmittelalterlichen Rätselsammlungen von 1968 (Corpus Christianorum Series Latina 133-133A). Glorie konnte zwar zusätzlich auf die wichtige, von Finch (1961) kollationierte vatikanische Handschrift Reg. lat. 1553 zurückgreifen, sein Text aber enthält eine Reihe zweifelhafter Konjekturen und Lösungsvorschläge, die in der Forschung mancherorts kritiklos übernommen wurden. Falsch und unbegründet sind seine Änderungen der handschriftlich bezeugten Überschriften bei Nr. 23: »De ignis scintilla« (Feuerfunke) statt De igne (Feuer), Nr. 46: »De pistillo« (Mörser) statt De malleo (Hammer), Nr. 47: »De cochlea« (Muschel) statt De castanea (Kastanie) und Nr. 56: »De sole« (Sonne) statt De verbo (Wort). Hinzu kommen die fragwürdigen Lösungen »De castanea« (Kastanie, Nr. 48), »De charta« (Papier, Nr. 50A), »De trutina« (Waage, Nr. 53) und »De insubulo« (Kettbaum eines Webstuhls, Nr. 54) für die vier titellosen Rätsel, die wohl eher eine Walnuss (Nr. 48), Pergament (Nr. 50A), eine Mörserkeule (Nr. 53) und einen Blasebalg und Geldbeutel (lat. follis, Nr. 54) beschreiben. Obwohl Glories Text in mancher Hinsicht einen Rückschritt gegenüber demjenigen Streckers darstellte, ermöglichte es die Ausgabe, die Berner Sammlung fortan im weiteren Kontext der lateinischen Rätseltradition zu sehen. Die beiden Bände bleiben bis heute wichtig nicht nur wegen ihrer Gesamtschau, sondern auch dank der vielen Querverweise und ausführlichen Register, mittels denen sich die gattungstypischen Themen und die intertextuellen Bezüge zwischen den verschiedenen Sammlungen erschließen lassen.
Glories Edition beigegeben ist eine leider oft fehlerhafte deutsche Nachdichtung von Karl Minst, die erste vollständige Übertragung der Berner Rätsel, nachdem bereits 1869 Hermann Hagen eine Handvoll Proben aus dem Berner Codex ins Deutsche übersetzt hatte. Seit dem Ausschluss der Berner Rätsel in der Neuausgabe der Anthologia Latina von Shackleton Bailey (1982) erschienen – abgesehen von vereinzelten Hinweisen in der Forschungsliteratur – vorerst keine modernen Übersetzungen mehr. Eine Ausnahme bildet die spanische Gesamtübertragung von Rieses Anthologie durch Francisco Socas (2011), der sich, was den lateinischen Text und die Lösungen der Berner Rätsel betrifft, allerdings eng an Glories Ausgabe hält und keine neuen Erkenntnisse liefert.
Erst mit dem jüngst vermehrt sichtbaren Interesse der Forschung an der angelsächsischen Rätseldichtung ist die Berner Sammlung als wichtiges Bindeglied zwischen Antike und Mittelalter neu ins Blickfeld gerückt. Davon zeugen drei Veröffentlichungen in italienischer und englischer Sprache, die 2020 bzw. 2021 erschienen. In ihrer Studie der »Aenigmata Tullii« bietet Giulia Farina (2020) zwar keinen neuen kritischen Text, jedoch nebst einer italienischen Übersetzung einen ausführlichen Kommentar zu allen 64 Gedichten, die sie – wenngleich nicht immer schlüssig – nach Themen gruppiert. Im Vordergrund stehen dabei die inhaltlichen und formalen Bezüge sowohl zu Symphosius als auch zu den anglo-lateinischen Rätseldichtern, aber auch die Frage der Lösungen, die die Autorin teilweise neu beurteilt, etwa beim Kastanien-Rätsel (Nr. 47) oder den Nummern 48, 50A, 53 und 54, für die sie freilich keine Titel festlegt.
Die erste vollständige Übertragung der Sammlung ins Englische samt Kommentar veröffentlichte Neville Mogford 2020-21 als Webedition innerhalb des an der Universität Birmingham beheimateten Forschungsprojekts »Group Identity and the Early Medieval Riddle Tradition«, das zum Ziel hat, sämtliche frühmittelalterlichen Rätselsammlungen in modernen Übersetzungen elektronisch zugänglich zu machen. Wie Farina folgt auch Mogford der Textgestalt bei Strecker und Glorie, dessen Lösungen er allerdings oft unkritisch übernimmt. Die als Blog verfassten Kommentare, die keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben, enthalten zahlreiche wertvollen Hinweise speziell zur Sach- und Ideengeschichte der einzelnen Rätselgegenstände, verbinden die Dinge jedoch zu sehr mit der frühmittelalterlichen monastischen Kultur Englands, das als Ursprungort der Sammlung auszuschließen ist.
Ein ähnlicher Hang, in den Berner Rätseln geistliche Lesarten im Sinn der vormodernen Natur- und Dingallegorese festmachen zu wollen, findet sich in den knappen Kommentaren von Andy Orchard (2021) innerhalb seiner umfangreichen zweisprachigen Gesamtausgabe der altenglischen und anglo-lateinischen Rätsel einschließlich verwandter Texte. Orchard versteht die Berner Rätsel richtig als Teil einer größeren, den insularen und kontinentalen Raum verbindenden Tradition, die er mit vielen Querverweisen auf thematische und formale Parallelen innerhalb des von ihm bearbeiteten Korpus nachzeichnet. Damit geht die Ausgabe über diejenige Glories hinaus, hält aber, was die Textgestalt und die Rätsellösungen betrifft, gleichzeitig zu sehr an dieser fest, ohne dass im Einzelnen genau ersichtlich wird, was handschriftlich überliefert und was vom Herausgeber hinzugesetzt ist.
Literaturhinweise
Brandt, P. (Hg.), Aenigmata Latina hexasticha, Tirocinium philologum sodalium Regii Seminarii Bonnensis, Berlin 1883, 101-34.
Farina, G., Indovina chi sono: Per uno studio degli Aenigmata Tullii, Cargeghe 2020.
Finch, C. E., The Bern Riddles in Codex Vat. Reg. Lat. 1553, Transactions and Proceedings of the American Philological Association 92 (1961), 145-55.
Glorie, F. (Hg.), Collectiones Aenigmatum Merovingicae Aetatis, 2 Bde., Corpus Christianorum, Series Latina 133, 133A, Turnhout 1968.
Hagen, H., Antike und mittelalterliche Räthselpoesie [sic] mit Benutzung noch nicht veröffentlichter Quellen aus dem Handschriften-Bibliotheken zu Bern und Einsiedeln, Biel 1869 (2. Aufl. 1877).
Meyer, W., Anfang und Ursprung der lateinischen und griechischen rythmischen [sic] Dichtung, Abhandlungen der philosophisch-philologischen Classe der königlichen bayerischen Akademie der Wissenschaften 17 (1886), 265-447 [wieder abgedruckt in W. Meyer, Gesammelte Abhandlungen zur mittellateinischen Rythmik, Bd. 2, Berlin 1905, 1-201].
Mogford, N., The Bern Riddles, The Riddle Ages: Early Medieval Riddles, Translations and Commentaries, hg. u. übers. v. M. Cavell et al. (2013; redeveloped 2020), https://theriddleages.com.
Mone, F. J. (Hg.), Lateinische Räthsel, Anzeiger für Kunde der teutschen [sic] Vorzeit 8 (1839), 218-29.
Orchard, A. (Hg. u. Übers.), The Old English and Anglo-Latin Riddle Tradition und A Commentary on the Old English and Anglo-Latin Riddle Tradition, Cambridge, Mass., und Washington, DC, 2021.
Riese, A. (Hg.), Anthologia Latina sive poesis Latinae supplementum, 2 Bde., Bd. I.1-2, Leipzig 1869; 2. Aufl. Leipzig 1894-1906.
Socas, F. (Übers.), Antología latina: Repertorio de poemas extraído de códices y libros impresos, Madrid 2011.
Strecker, K. (Hg.), Aenigmata hexasticha, Rhythmi aevi Merovingici et Carolini, Monumenta Germaniae Historica: Poetae Latini Aevi Carolini 4.2, Berlin 1914, 732-59; zusammen mit Fasz. 4.3, Berlin 1923.
Published May 2022
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Bitterli, Dieter. “Einführung: Ausgaben und Übersetzungen” Die Berner Rätsel. 2022. [online]. Available at: https://www.enigmata.ch